Ramsi
Rami sitzt in einer Ecke des Aufenthaltsraumes. Sein Rücken ist krumm, sein Kopf ist gesenkt. Es ist schon spät, nur hin und wieder geht jemand an ihm vorbei, nimmt aber keine Notiz von ihm. Er ist fast unsichtbar. Sein Körper ist starr, seine Hände jedoch sind unablässig in Bewegung. Er legt sein Handy von der einen in die andere und gleich wieder zurück. Seit geraumer Zeit geht das schon so. Rami überlegt, ob er es sich gestatten kann, seine Mutter anzurufen. Er sehnt sich in diesem Moment sosehr danach wie nach sonst nichts auf der Welt. Abgesehen davon, dass dann auf einen Schlag sein ganzes restliches Guthaben aufgebraucht wäre, würde ein Anruf mitten in der Nacht der Mutter auch einen Schock versetzen. Wenn das Handy klingelt, nimmt sie immer das Schlimmste an. Rami möchte nicht riskieren, sie in Angst zu versetzen, ihm könnte etwas zugestoßen sein. Trotzdem bringt er es nicht über sich, das Handy wegzustecken.
Erst, als er auf Arabisch angesprochen wird, schaut er auf. Ob er auch nicht schlafen könne?
Ein junger Mann blickt Rami freundlich entgegen. Er hat eine Flasche Cola in der Hand und Kopfhörer in den Ohren, zieht sie jetzt aber heraus. Musik rauscht jetzt im Hintergrund. Das Kabel verschwindet in einer Tasche seiner Jogginghose. Der junge Mann langt hinein, holt sein Handy hervor und betätigt eine Taste. Die Musik verstummt. Er lässt das Telefon zurück in die Tasche gleiten.
„Music for dancing”, sagt er. „Madonna. Lada Gaga. Very cool.“
Rami nickt nur. Der junge Mann zögert, dann hält er ihm eine Colaflasche hin. Ob er etwas trinken wolle, fragt er jetzt wieder auf Arabisch und bietet an, für Rami ein Glas aus der Küche zu holen.
Rami lehnt dankend ab. So spät noch Cola, dann könne er überhaupt nicht einschlafen.
Genau, kichert der junge Mann, deshalb sei er selbst ja auch noch wach. Aber … Hier runzelt er die Stirn … Er schlafe generell nicht gern, er wolle nichts vom Leben versäumen.
Bei diesen Worten reißt er seine Augen auf. Durch den schwarzen Lidstrich, der sie umrandet, wirken sie sehr groß.
Er streckt Rami die Hand hin. Milad, stellt er sich vor.
Rami ergreift die Hand. Rami, sagt er.
Woher er denn komme, will sein Gegenüber wissen.
Doch Rami blockt ab. Dass er ihm nicht böse sein solle, aber er wolle sich jetzt nicht unterhalten, sondern würde lieber allein sein. Ein anderes Mal vielleicht …
Der junge Mann mustert ihn, dann grinst er. „Another lonely night“, singt er; eine Melodie, die Rami nicht geläufig und ja vielleicht auch erfunden ist.
Milad nimmt einen Zug aus der Colaflasche und streicht sich an einer Stelle
über die Haare, wo sie auf die Schulter fallen. Erst jetzt registriert Rami, dass sie mittelbraun gefärbt sind und von einem dunkelroten Reif zurückgehalten werden.
Der junge Mann wünscht Rami eine gute Nacht. Trotz allem, fügt er mit einer ausholenden Geste hinzu. Er stellt die Musik auf seinem Handy wieder an und steckt sich die Hörer in die Ohren. Dazu flatternde Lider, ein Schwung mit der Hüfte, als er sich umwendet, eine tänzelnde Art zu gehen, die Rami unwillkürlich als weiblich einschätzt, als er den Flur hinunter verschwindet. Rami kann diesem Verhalten nichts abgewinnen. Er kann sich vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten Milad dort, wo er zu Hause war, zu kämpfen hatte. Einer wie er, geht Rami durch den Kopf, wäre dort nicht lang unbeschadet geblieben, und für einen Moment bereut er, die Einladung zu einem Gespräch abgewiesen zu haben.
Dann aber wendet er sich wieder seinem Handy zu. Er ruft die Nummer seiner Mutter auf und betrachtet ihr Foto. Sein Finger schwebt über dem Anrufzeichen. „Ramsi“ haben ihn seine Mutter und die Großmutter als Kind immer genannt, und die Großmutter hat diese Koseform auch später beibehalten. Ramsi, habibi, mein Liebling. Er hat sich lachend immer wieder darüber beschwert. Ich bin ein Mann!, sein Ruf in gespieltem Protest. Doch in Wahrheit hätte er es vermisst, wenn sie ihn anders genannt hätte.
Bei ihrem Abschied hat sie ihm den Namen ins Ohr geflüstert. Habibi, Ramsi, sei stark. Das war ihre Art, ihn zu segnen. Rami fragt sich bang, ob er diesen Namen noch einmal aus ihrem Mund hören wird.
Schweiß steht ihm auf der Stirn, als er die Nummer schließlich wieder wegdrückt und in sein Zimmer geht, um den Rest der Nacht blind zur Decke zu starren.